Die Einleitung in den physiotherapeutischen Befund.
Die Anamnese ist der erste Schritt jeder physiotherapeutischen Befunderhebung. Sie liefert wichtige Informationen über die Vorgeschichte, aktuelle Beschwerden und den sozialen sowie medizinischen Kontext der Patientin oder des Patienten.
Mit gezielten Fragen und guter Gesprächsführung legst du hier die Grundlage für deine klinische Einschätzung und deine Therapieplanung.
Um dir den Einstieg in die physiotherapeutische Anamnese zu erleichtern, findest du hier eine strukturierte Schritt-für-Schritt-Anleitung – ergänzt durch ein konkretes Patientenbeispiel. So siehst du nicht nur, was gefragt werden sollte, sondern auch, wie typische Antworten in der Praxis aussehen können.
Anhand einer 75-jährigen Patientin mit einer Oberschenkelhalsfraktur (nach Sturz, operiert mit HTEP) zeige ich dir, wie du Informationen gezielt sammelst, interpretierst und dokumentierst – vom ersten Eindruck bis zur Einschätzung relevanter Risikofaktoren.
Diese Informationen kannst du direkt erfragen oder aus Arztbriefen herauslesen.
| Anamnese-Bestandteil | Beispiel – Patientin, 75 Jahre |
|---|---|
| Alter | 75 Jahre |
| Geschlecht | Weiblich |
| Diagnose | Oberschenkelhalsfraktur rechts |
| Datum von Unfall oder OP | Sturz vor 7 Tagen, OP (HTEP) vor 5 Tagen |
| Ärztliche Verordnung / Procedere | Mobilisation mit Gehstützen, Vollbelastung erlaubt |
| Relevante Nebenbefunde | Herzrhythmusstörungen, Schrittmacher, Bluthochdruck, Diabetes mellitus Typ 2, Osteoporose |
| Medikation & Wirkung | Antihypertensiva, Antidiabetika, Schmerzmedikation (gut wirksam) |
| Risikofaktoren | Herzrhythmusstörungen, Schrittmacher, Bluthochdruck (Achtung Herzfrequenz bei Belastung) |
In der physiotherapeutischen Anamnese ist es besonders wichtig, bereits zu Beginn potenzielle Gefahrenzeichen oder Kontraindikationen zu erkennen. Sie helfen dir, den Behandlungsweg sicher und verantwortungsvoll zu gestalten – und zu entscheiden, ob eine physiotherapeutische Behandlung überhaupt angezeigt ist.
Red Flags – Warnzeichen für ernsthafte Pathologien
Red Flags sind Hinweise darauf, dass eine schwerwiegende medizinische Erkrankung (z. B. Tumor, Fraktur, Infektion) vorliegen könnte. Sie erfordern eine sofortige ärztliche Abklärung.
| Red flag | Beispiel – Patientin, 75 Jahre |
|---|---|
| Gibt es Nachtschmerzen oder Ruheschmerzen ohne mechanischen Auslöser? | Nein |
| Gab es ein Trauma (Sturz, Unfall etc.) in der Vorgeschichte? | Ja, einen Sturz |
| Liegt ein unerklärlicher Gewichtsverlust vor (>5 kg/Monat)? | Nein |
| Besteht eine Krebs-Vorgeschichte? | Nein |
| Gibt es neurologische Auffälligkeiten (z.B. Blasen-/Darmkontrolle, Taubheit, Muskelschwäche)? | Nein |
| Besteht ständiger, zunehmender Schmerz? | Es ist eine ständiger, nicht zunehmender Schmerz im und um das Hüftgelenk herum. |
Risikofaktoren – was du im Blick haben solltest
Manche Patient*innen bringen Vorerkrankungen oder systemische Risiken mit, die den Therapieverlauf beeinflussen können.
Diese Faktoren solltest du immer aktiv erfragen oder ärztlich abklären lassen, bevor du z. B. manuelle Techniken oder Belastungstraining einleitest.
| Risikofaktor | Beispiel – Patientin, 75 Jahre |
|---|---|
| Alter über 70 Jahre -> Frakturrisiko ↑ | Ja |
| Kortisontherapie -> Gewebeanfälligkeit ↑ | Nein |
| Starke Osteoporose | Ja |
| Chronische Erkrankungen (z.B. Diabetes, Rheuma) | Ja, Diabetes mellitus Typ 2, Bluthochdruck und Herzrhythmusstörungen |
| Frühere Infektionen, offene Wunden, Immunschwäche | Nein |
Diese Informationen beobachtest und notierst du im ersten Moment, in dem du den/die Patient*in siehst.
| Mögliche Beobachtungsaspekte | Beispiel – Patientin |
|---|---|
| Wie wirkt die Person beim ersten Kontakt? | Zurückhaltend, aber freundlich. Wirkt leicht erschöpft. |
| Wird ein Rollator, Stock, Orthese o. Ä. verwendet? | Ein Gehwagen steht neben dem Klinikbett, Mobilisation mit Gehbock geplant laut Verordnung |
| Wie ist die Lagerung im Bett? | Patientin liegt flach gelagert im Klinikbett auf der Unfallchirurgie, rechte Hüfte mit Kissen unterlagert |
| Wie ist der erste Kontakt? | Wach, orientiert, leicht schmerzgeplagt – antwortet freundlich. |
Hier geht es um die persönliche Krankengeschichte des/der Patient*in.
| Was wird hier erhoben? | Beispiel - Patientin |
|---|---|
| Was ist passiert? | Sturz im häuslichen Umfeld beim nächtlichen Toilettengang |
| Gab es vorherige Verletzungen? | Nein, erstmaliger Sturz mit Folgefraktur |
| Welche Diagnosen liegen vor? | Oberschenkelhalsfraktur rechts, Herzrhythmusstörungen, Diabetes Typ 2, Bluthochdruck |
| Wurde eine Operation durchgeführt? | Ja, HTEP vor 5 Tagen |
| Welche Behandlungen gab es bereits? | Postoperative Schmerztherapie, Mobilisation aus dem Bett durch das Pflegepersonal |
Beschreibung der aktuellen Beschwerden und Schmerzen – aus Sicht des/der Patient*in.
| Beschreibung der Beschwerden / Schmerzen | Beispiel – Patientin |
|---|---|
| Seit wann bestehen die Beschwerden? | Seit dem Sturz vor 7 Tagen, verstärkt seit der OP |
| Wo tut es weh? (Lokalisation) | Global um das Hüftgelenk und Oberschenkel-Außenseite rechts |
| Wie ist der Schmerz? (Art) | Dumpfer, ziehender Schmerz – gelegentlich stechend beim Aufsetzen |
| Wie stark ist der Schmerz? (Intensität) | NRS 6/10 in Ruhe, bis 8/10 bei Belastung |
| Wie lange hält der Schmerz an? | In Ruhe abnehmend, Belastungsschmerz ca. 15–30 Minuten nach Mobilisation |
| Ist der Schmerz beeinflussbar? | Verbesserung durch Schmerzmittel und Lagerung; Zunahme bei Bewegung |
| Nimmt die Patientin Schmerzmedikation? | Ja – Novaminsulfon, Einnahme regelmäßig, Wirkung ausreichend |
Hier fragst du die Kontextfaktoren (Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren) ab.
| Sozialanamnese & Umfeld | Beispiel – Patientin |
|---|---|
| Wohnsituation | Alleinlebend in einer Wohnung im 1. OG (ohne Aufzug) |
| Beruf | Rentnerin, zuvor Grundschullehrerin |
| Hobbys | Gartenarbeit, Lesen, Kaffeetrinken mit Freundinnen |
| Familiäre Unterstützung | Tochter wohnt in der Nähe, hilft regelmäßig im Alltag |
| Relevante Angehörige oder Pflegepersonen | Tochter als wichtigste Kontaktperson, bei Bedarf Pflegedienst geplant |
Welche der folgenden Hilfsmittel verwendet die/der Patient*in im Alltag?
| Hilfsmittel & Nutzung | Beispiel – Patientin |
|---|---|
| Welche Hilfsmittel nutzt die Person? | Rollator (Innenbereich), Gehbock auf Station, Brille und Hörgerät |
| Wird das Hilfsmittel dauerhaft oder situationsabhängig genutzt? | Derzeit dauerhaft, geplant für temporäre Nutzung im Alltag |
| Wie sicher ist die Patientin im Umgang damit? | Sicher mit Rollator, noch unsicher beim Aufstehen aus dem Bett |
Hier versuchst du im Rahmen von Shared-Decision-Making mit dem/der Patient*in Ziele und Wünsche festzuhalten.
| Therapieziele & Wünsche | Beispiel – Patientin |
|---|---|
| Was möchte die Person mit der Therapie erreichen? | Wieder sicher in der Wohnung laufen, selbstständig duschen und einkaufen können |
| Gibt es Wünsche oder Bedenken? | Angst vor erneutem Sturz; wünscht sich intensive Unterstützung beim Aufstehen und beim Treppensteigen |
Stelle offene Fragen – lass den Patienten erzählen
Höre aktiv zu und beobachte dabei Haltung, Mimik, Verhalten
Notiere relevante Angaben stichpunktartig
Nutze gezielte Nachfragen (z. B. „Seit wann bestehen die Beschwerden?“)
Achte auf Kontext – z. B. psychische Belastungen, soziales Umfeld
Ergänze eigene Beobachtungen (z. B. „Patient antwortet verlangsamt, wirkt müde“)
Deine Befundergebnisse kannst du in verschiedenen Bereichen festhalten – je nach Arbeitsumfeld:
In digitalen Dokumentationssystemen (z. B. in der Praxissoftware)
In Papierbefunden oder strukturierten ICF-Befundbögen
In Ausbildungsunterlagen oder bei Fallbesprechungen
Im interdisziplinären Team – z. B. als Teil eines Reha- oder Therapieberichts
Bei der Anamnese bietet es sich an in Stichpunkten mitzuschreiben, damit man schnell mitkommt. Patient*innen geraten oft in einen schnellen Redefluss, wenn sie nach ihren Beschwerden gefragt werden.
Du dokumentierst alles, was für die Funktion, Aktivität oder Teilhabe, etc. relevant ist.
Dokumentiere nicht nur Defizite, sondern auch Ressourcen, Fortschritte und Einflussfaktoren!
Standardisierte Fragebögen und Skalen machen deine Anamnese objektiver, strukturierter und besser vergleichbar – besonders bei chronischen Erkrankungen oder wiederkehrenden Beschwerden. Sie geben dem Patienten eine Stimme, erfassen Einschränkungen im Alltag und helfen, gezielt weiter zu untersuchen.
Beispiele bekannter Fragebögen & deren Einsatz:
Oswestry Disability Index (ODI)
➝ bei chronischen Rückenschmerzen
Misst, wie stark Rückenschmerzen den Alltag und die Funktionsfähigkeit einschränken.
Roland-Morris Disability Questionnaire (RMDQ)
➝ ebenfalls bei Rückenschmerzen, v. a. akut
Kurze Einschätzung der funktionellen Einschränkung durch Rückenprobleme.
WOMAC (Western Ontario and McMaster Universities Osteoarthritis Index)
➝ bei Arthrose, z. B. Knie oder Hüfte
Bewertet Schmerzen, Steifheit und körperliche Funktion bei Arthrosepatienten.
TUG-Test (Timed Up and Go)
➝ bei älteren Personen, zur Sturzrisiko-Abschätzung
Einfacher, objektiver Test zur Mobilität und Balance im Alltag.
ABC-Skala (Activities-specific Balance Confidence Scale)
➝ z. B. bei Parkinson, Schwindel oder nach Stürzen
Erfasst, wie sicher sich Patient*innen bei alltäglichen Bewegungen fühlen.
Hier findest du den ausgefüllten Anamnesebogen für die Patientin mit der Hüft-TEP.